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Apr

Stellen Sie sich ein älteres Ehepaar vor, das anlässlich des fünfzigsten Jahrestages ihrer Hochzeit morgens gemeinsam am wunderbar gedeckten Frühstückstisch sitzt. Fröhlich und auch stolz blicken sie gemeinsam auf die letzten 50 Jahre zurück. Wie jeden Morgen schneidet Friedhelm das Brötchen auf und reicht seiner Elfriede eine Seite des Brötchens über den Tisch. Mitten in der Bewegung stoppt er und sagt: „Liebe Elfriede, ich liebe Dich über alles und ich habe unsere Ehe immer sehr genossen. Aber dürfte ich mir zur Feier des Tages etwas ganz Besonderes wünschen? Darf ich heute mal die Unterseite vom Brötchen haben und Du nimmst die Oberseite?“ Elfriede lehnt sich irritiert zurück und rückt ihre Brille zurecht. „Ist das Dein Ernst? Ich dachte immer Du magst die Oberseite viel lieber und ich habe deswegen all die Jahre die Unterseite gegessen, obwohl mir die Oberseite viel besser schmeckt. Na hör‘ mal Friedhelm, sowas musst Du mir doch sagen!“. Beide beginnen zu lachen und freuen sich, in den folgenden Jahren ihre bevorzugte Brötchenseite zu essen.

Diese Geschichte zeigt gut, wie unser Bild vom Gegenüber unser Verhalten beeinflusst. Die „Erwartungserwartungen“, also unsere Idee davon, was unser Gegenüber von uns möchte, sind die Grundlage dafür, dass wir „soziale Wesen“ sind und kooperieren können. Diese tolle Fähigkeit kann aber auch zur Tücke werden. Und zwar immer dann, wenn wir uns in Konflikten mit anderen Menschen befinden. Es gibt zwei sogenannte Wahrnehmungsfehler[1], von denen einer in den Konflikt hineinführt und ihn eskalieren lässt während der andere Wahrnehmungsfehler dazu führt, dass man nicht mehr aus dem Konflikt herausfindet.

Sind wir in einem Konflikt, dann machen wir uns unser eigenes Bild von der Situation. Jeder weiß aus persönlicher Erfahrung, dass der Konfliktpartner (ein spannendes Wort, oder? Man hätte ja auch „Gegner“ sagen können…) ein ganz eigenes, meist völlig unterschiedliches Bild vom Konflikt hat. Dass sich zwei Beschreibungen ein und desselben Konflikts so unterscheiden können, hängt mit eben diesen Wahrnehmungsfehlern zusammen.

Der erste Wahrnehmungsfehler ist der „fundamentale“: Hierbei geht es immer darum, Ursachen für Verhalten zu erklären. Unser eigenes Verhalten erklären wir dabei als alternativlose Reaktion auf äußere Umstände („Ich konnte ja nicht anders! Wenn der so mit mir umgeht, ist doch klar, dass ich da so reagiere!“). Wenn wir uns die Ursachen für das Verhalten des Anderen erklären, dann sind die Gründe fast immer persönliche Zuschreibungen („Der ist eben so..!“). Auch hierbei gibt es ein spannendes Muster, denn in den meisten Fällen halten wir den anderen für dumm, krank oder böse („Ich glaube der checkt´s einfach nicht!“ / „Der ist doch ein Psychopath!“ / „Der ist ein egoistischer Arsch, das sieht doch jeder!“).

Mit diesem Wahrnehmungsfehler finden wir sehr schnell in einen Konflikt hinein. Wir reagieren immer nur auf das dumme, kranke oder böse Verhalten des Gegenübers und verteidigen uns nur. Das Interessante ist, dass es dem Konfliktpartner genau gleich geht.

Der zweite, sogenannte „feindselige“ Wahrnehmungsfehler taucht auf, wenn einer der Beteiligten den ersten positiven Schritt aus dem Konflikt gehen möchte. Tragischerweise ist dann meistens das Misstrauen des Anderen so groß, dass man ihm so einen positiven Schritt nicht mehr zutraut und es zum Beispiel für eine Falle hält. Ein Deeskalationsangebot wie „Sollen wir die Sache nicht gut sein lassen und uns vertragen?“ wird dann abgeschmettert, zum Beispiel mit Aussagen wie „So leicht kommst Du mir nicht davon. Erst verletzt Du mich und jetzt sollen wir es dabei belassen? Nicht mit mir!“. Darin lauert nun die große Gefahr, dass der Andere, der es eigentlich gut meinte, jetzt erst so richtig in Fahrt kommt: „Glaub ja nicht, dass ich noch einmal nachgebe und versuche, den Streit zu lösen! Ich hab´s im Guten versucht, aber jetzt reicht´s mir endgültig!“.

Dieser Wahrnehmungsfehler führt also dazu, dass Auswege aus dem Konflikt versperrt bleiben. Doch das Wissen, dass es diesen Wahrnehmungsfehler gibt, kann auch helfen, wieder aus Konflikten herauszufinden. Wir dürfen, wenn wir eine positive Geste in Richtung Lösung anbieten, nicht damit rechnen, dass diese Geste erwidert wird. Im Gegenteil: Wenn wir uns bewusst machen, dass der Andere vermutlich negativ darauf reagiert, dann werden unsere Erwartungen nicht enttäuscht. Die Kunst besteht darin, diese freundliche Geste zwei- oder sogar dreimal zu machen, denn so wird es für den feindseligen Wahrnehmungsfehler immer schwieriger, die Sicht zu vernebeln.

Ein Aspekt von Konflikten sind also Wahrnehmungsfehler, bei denen wir das Gefühl haben, wir wüssten was im Kopf des Anderen vor sich geht. Genau wie bei Elfriede und Friedhelm in 50 Jahren Ehe. Es geht uns und Anderen besser, wenn wir uns diese Dynamik ab und zu bewusst machen und darüber sprechen – das klingt wie immer leichter gesagt als getan. Aber wie unsere Freunde von der Insel zu sagen pflegen: It´s worth a try.

[1] Sehr lesenswert hierzu ein Artikel von Arist von Schlippe, abzurufen unter: https://www.km-kongress.de/html/download.cms?id=256&dateiname=Konfliktdynamik_256.pdf